Warum es sich lohnt, nicht vorschnell zu urteilen
Wir müssen urteilen, denn ohne Menschen und Situationen einzuschätzen, können wir unseren Alltag nicht bewältigen. So schützen wir uns vor körperlichen und seelischen Verletzungen. Doch indem wir vorschnell urteilen oder verurteilen, schränken wir uns ein. Wie finden wir zu mehr Offenheit und warum könnte sich das lohnen?
Ohne unsere Urteilskraft können wir nicht überleben. Wir nehmen mit unseren Sinnen permanent wahr, was um uns herum geschieht, gleichen es mit bisherigen Erfahrungen und unseren Werten ab und entscheiden, ob eine Situation gefährlich oder harmlos ist, ob wir einen Menschen gut finden oder nicht, ob wir eine Aussage für wahr oder falsch halten und vieles mehr. Wie wichtig dabei Erfahrungen sind, habe ich bei einem Aufenthalt in Nigeria festgestellt, wo es mir schwerfiel, mir Namen zu merken, weil ich die Gesichter nicht gut zuordnen konnte. Ich habe Menschen verwechselt, was mir zu Hause selten passiert. Das war verwirrend und erst nach einer Weile verstand ich, dass mir einfach die Erfahrungswerte fehlten, weil ich in einer anderen Kultur unterwegs war. Wir sind gewohnt, unsere Urteilskraft einzusetzen und brauchen diese Fähigkeit. Sie funktioniert in der Regel verlässlich und schenkt uns Orientierung.
Verletzungen vermeiden
Indem wir aussortieren, was nicht zu uns passt oder gefährlich erscheint, vermeiden wir Verletzungen. Wer einmal an eine heiße Herdplatte gefasst hat, tut es nie wieder. Wer sich einem Menschen anvertraut hat, der den Inhalt des vertraulichen Gesprächs im Freundeskreis ausbreitete, wird vorsichtig. Unser Erfahrungsschatz setzt sich aus positiven und negativen Erlebnissen zusammen. So entwickeln wir bei unseren Entscheidungen eine Spur, in der wir bleiben, weil wir uns schützen wollen. Wir wissen genau: das funktioniert, jenes jedoch nicht. Unsere Erwartungen entwickeln sich entsprechend. Wir schließen alles, was nicht zu unserem bisherigen Erfahrungsbereich gehört, von vorneherein aus.
Diese Verhaltensweise nimmt uns die Chance, Schönes zu erleben, das vollkommen neu für uns ist. Wir weigern uns, es uns vorzustellen, weil es Angst macht. Wir bewegen uns innerhalb unseres gewohnten Kreises von Menschen und Aktivitäten. Alles bleibt, wie es ist. Alte Verletzungen verhindern, dass Neues entsteht, weil sie unsere Handlungen bestimmen. Die Offenheit leidet. Das Leben stagniert.
Wir meinen, was wir von jemandem denken, sei unsere Sache und es würde uns gelingen, das zu verbergen. Doch das stimmt nicht. Jede und jeder weiß genau, was wir von ihr oder ihm denken. Wir senden es als Schwingung aus. Die Menschen reagieren so, wie wir es erwarten. Sie spiegeln uns unsere Überzeugungen. Wir bekommen immer wieder die gleichen Reaktionen. Wir drehen uns im Kreis.
Der erste Schritt zu mehr Offenheit
Jeder von uns kennt das: Wir treffen jemanden zu ersten Mal oder bekommen ein Angebot – und bilden sofort ein Urteil: Passt nicht, kann weg! Wissenschaftler sagen, das dauert wenige Sekunden. Gerade wenn wir schon etwas älter sind, haben wir so viel Übung im Urteilen, dass wir uns oft nicht einmal richtig Zeit nehmen, um eine Person oder eine Handlungsoption genau unter die Lupe zu nehmen. Geschwindigkeit ist entscheidend, wenn wir in Gefahr sind. Wenn uns ein Leopard gegenübersteht, haben wir nicht ewig Zeit, zu entscheiden, ob wir uns totstellen oder weglaufen. Doch wie oft kommt das im Alltag vor? Könnte es sein, dass diese Haltung des schnellen Urteilens uns Chancen nimmt? Sie könnte dazu führen, dass wir Menschen, die sich gut verkaufen können, bevorzugen und andere, die stiller sind, nicht beachten. Was wir wahrnehmen, sehen wir durch den Filter unserer bisherigen Erfahrungen. Er lässt vieles nicht durch. Sich dessen bewusst zu werden, ist der erste Schritt auf dem Weg zu mehr Offenheit.
Dazu kommt, dass wir von den Menschen, die wir treffen, oft nur wenig wissen, wie sie aufgewachsen sind, was sie geprägt hat. Trotzdem geschieht es, dass wir sie in Schubladen stecken: die Fleißige, der Chaot, die Ungeduldige … Dabei steckt in jeder und jedem sehr viel mehr als das, was sie bei der ersten Begegnung zeigen. Es ist anstrengend, die Schubladen erst einmal geschlossen zu halten, den Eindruck, den ein Mensch auf mich macht, wahrzunehmen, aber noch nicht endgültig zu bewerten. Schon gar nicht, gleich zu verurteilen.
„Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet! Denn wie ihr richtet, so werdet ihr gerichtet werden und nach dem Maß, mit dem ihr messt, werdet ihr gemessen werden“, heißt es in der Bergpredigt Jesu (Mt 7,1-2)*. Doch von wem werden wir gerichtet, verurteilt? Von unserem göttlichen Vater, unserer göttlichen Mutter, die in unser Herz sieht? Das kann ich mir nicht vorstellen. Ich glaube, wir selbst sind es, die sich genauso hart verurteilen, wie sie über andere richten. Wir neigen dazu, an anderen das negativ zu bewerten, was wir – vielleicht unbewusst – an uns selbst kritisieren. Das bleibt nicht ohne Folgen – seelisch und körperlich. Bleiben wir offen, geben wir auch uns selbst Raum, so zu sein, wie wir sind.
Begegnungen Raum geben
Stell dir vor, du triffst jemanden zum ersten Mal. Du schaust ihn oder sie an, den Gang und die Kleidung , siehst in sein Gesicht, in seine Augen, nimmst die Mimik wahr, die Gestik, hörst die Farbe der Stimme und die Ausdrucksweise, spürst den Druck der Hand, riechst den Duft. Was passiert dann? Du ordnest ihn oder sie ein. Du weißt gleich, ob dir dieser Mensch sympathisch ist oder nicht. So weit, so gut. Du wirst Dir bewusst, dass Du dabei bist, ein Urteil zu fällen, schiebst die schon geöffnete Schublade zu und lässt den anderen sein. So, wie er oder sie ist. Natürlich haben wir eine Tendenz. Doch wir legen uns nicht gleich fest.
Das bedeutet nicht, dass man immer offen bleiben muss und keine Grenzen setzen darf. Wenn es Menschen gibt, die einen regelmäßig angreifen und verletzen, muss man sich nicht immer wieder anbieten. Der Respekt vor mir selbst verlangt, dass ich auf mich achtgebe. Liebe und Fürsorge für mich sind die Basis dafür, andere zu lieben und in mein Herz zu lassen. Die Basis dafür, Offenheit zu bewahren.
Was wir uns schenken durch Offenheit
Der andere spürt unsere Offenheit und unser Wohlwollen und wird sich von seiner besten Seite zeigen. Wir erwarten Gutes und in der Regel bekommen wir das dann auch. Wir lassen neue Menschen in unser Leben und probieren neue Aktivitäten aus. Unsere Erfahrungen werden vielfältiger und reicher. Wir finden aus der eingefahrenen Spur heraus und bekommen immer mehr Lust, Neues zu wagen.
Das Beste, was wir uns durch einen Verzicht auf harte Urteile schenken, ist Selbstannahme. Ein Aufatmen: „Ich muss nicht perfekt sein. Ich darf sein, wie ich bin. Ich nehme andere an und ich bin angenommen.“
Das Leben hat manchmal andere Pläne als die, die wir uns zurechtgelegt haben. Das bekommen wir nur mit, wenn wir uns selbst gut sind und auch Menschen in unsere Nähe lassen, die nicht zum engeren Kreis gehören. Was für köstliche Überraschungen habe ich schon erlebt, wenn ich offen geblieben bin! Inspirierende Gespräche mit fremden Menschen irgendwo auf der Welt, von denen manche dann Freunde geworden sind, gehören dazu.
Eine gute Übung für Offenheit: mit offenen Sinnen in die Natur gehen. Impuls: Genau hinschauen.
* Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift. Vollständig durchgesehene und überarbeitete Ausgabe © Katholische Bibelanstalt GmbH, Stuttgart, alle Rechte vorbehalten.