Wie wir beim Warten gewinnen
Glück ist, wenn es im Wartezimmer so eine Tapete gibt. Dann kann man sich beim Warten wegträumen.
Foto: Jutta Hajek
Warten ist aus der Mode gekommen. Alles muss sofort passieren. Wir setzen uns unter Druck, um Zeit zu sparen, hetzen von hier nach dort, wissen mit der gewonnenen Zeit oft aber nichts anzufangen. Wie können wir beim Warten gewinnen?
Leben heißt Warten
Es beginnt im Mutterleib: Wir warten auf das Geborenwerden. Sind wir dann da, kann es nicht schnell genug weitergehen. Ich sehe das bei kleinen Kindern, die klettern, tanzen und laufen ausprobieren. Sie stehen am liebsten auf den Füßen, ziehen sich überall hoch, wippen, und wann immer sie eine Hand gereicht bekommen, packen sie die und marschieren los. Sie können es nicht erwarten, alleine laufen zu können.
Teenager warten sehnsüchtig auf das Erwachsenwerden, die Unabhängigkeit von den Eltern, selbst Autofahren zu dürfen, die Liebe fürs Leben zu finden. Später warten viele auf Kinder und auf beruflichen Erfolg. Sommers wie winters warten wir auf Urlaub, um Kräfte aufzutanken, die beim Kämpfen um den Erfolg auf der Strecke geblieben sind. Wir warten beim Arzt, am Bahnsteig, bei Konzerten, dass es losgeht. Bei manchen auch, dass es endlich vorbei ist … Im Alter kann es geschehen, auf den Tod zu warten, weil er Erlösung aus einer schwer erträglichen Situation verspricht.
Warten löst unterschiedliche Emotionen aus. Auf ein Konzert der Lieblingsband zu warten, macht hibbelig vor Freude. Im Wartezimmer eines Arztes können bange Gedanken hochkommen: „Was wird er wohl sagen? Werde ich wieder gesund?“ Tag für Tag auf den Zug zu warten, der einen zur Arbeit bringt, auch einmal sehr lang oder vergeblich, löst Gefühle der Ohnmacht aus. Von Freunden versetzt zu werden, mit denen man verabredet war, macht traurig oder wütend oder beides zugleich. Warten fordert uns heraus. Es ist keine einfache Sache, besonders wenn ich mich nicht dafür entschieden habe, sondern dazu gezwungen werde.
Wie warten?
Das Wort „warten“ hat, einen mittelhochdeutschen Ursprung: auf etwas achthaben, Ausschau halten. Heute verwenden wir es im Sinn von Zeit verstreichen lassen, bis etwas eintritt. Das kann freiwillig geschehen: „Ich warte noch auf eine günstige Gelegenheit!“ Das kann uns aber auch abverlangt werden: „Nehmen Sie bitte im Wartezimmer Platz!“ In beiden Fällen haben wir eine Wahl, wie wir damit umgehen.
„Wenn ich warten muss, dann übe ich mich in Achtsamkeit und atme bewusst. Ich sehe Warten als Zeit für mich und mit mir“, schreibt eine Freundin. Was für eine schöne Vorstellung! Sie ändert einiges daran, wie man sich hinterher fühlt. Eine andere nimmt zum Arzt ein Buch mit, vertieft sich in eine andere Welt und wundert sich, wenn sie schon aufgerufen wird.
„Ich mag überhaupt nicht warten“, sagt eine dritte. Sie sei ungeduldig. Kommt dir das bekannt vor? Von Natur aus kein geduldiger Mensch zu sein, verdammt einen aber nicht dazu, so zu bleiben. Durch regelmäßiges Meditieren kann Geduld wachsen. Auch Tai Chi und QiGong tragen zur inneren Ruhe bei. Michael Diemer bietet auf Youtube QiGong-Anleitungen für Anfänger an. Die Übungen helfen, sich zu zentrieren und sich, zumindest für ein paar Minuten, der Langsamkeit anzuvertrauen.
Körper-Übung (= vorbereitende Übung im Video): Stehen wie ein Baum
Anziehen statt erzwingen
Haben wir nicht alle schon einmal die Erfahrung gemacht: Wenn ich etwas zu sehr will, kommt es erst recht nicht. Ich kann es nicht erzwingen. Ich wollte diese Woche in Indien sein, weil ich zu einer Hochzeit eingeladen war. Das wäre eine besondere Erfahrung gewesen – eine, die ich mir lange gewünscht hatte. Dreimal war ich eingeladen. Zwei Mal blieb ich daheim wegen der Familie. Doch es wollte auch diesmal nicht sein: Der Flug wurde storniert und ich hätte einen anderen nehmen sollen, der zuerst nach Delhi führt und dann 200 Kilometer von meinem Ziel Mumbai entfernt landet. Ich habe die Reise abgesagt, weil es sich falsch anfühlte. Es wäre ein Krampf gewesen. Ob ich sie nachhole, weiß ich noch nicht. Solange ich nicht weiß, was ich tun soll, unternehme ich nichts. Ich warte. Und seit ich warte, hat sich einiges ergeben, das sich sehr gut anfühlt.
Was richtig und wahr ist, kommt mit einer gewissen Natürlichkeit. Hast du das auch schon erfahren? Mühe darf es machen, aber es fühlt sich nicht wie ein Krampf an, sondern alles fließt ineinander und auf einmal haben wir das ersehnte Ziel erreicht und gar nicht gemerkt, wie nah wir die ganze Zeit waren. Die veränderte innere Haltung hat das Erkennen und Annehmen möglich gemacht: Ich öffne mich und lasse das Gute zu mir kommen.
Körper-Übung (erste im Video): Wecken des Qi
Vergeblich warten
Doch manches Mal funktioniert nicht einmal das – wie in Samuel Becketts Theaterstück Warten auf Godot, in dem es zwar immer wieder Anzeichen gibt, dass Godot gleich kommen wird. Er erscheint aber nicht und die beiden Landstreicher, die viel Zeit vertrieben haben, warten am Ende immer noch.
Was dann? Ist es, wenn das Ersehnte nicht eintritt, nicht umso wichtiger, wie wir die Zeit des Wartens verbracht haben, ob nur mit Spielen und Zeittotschlagen oder auch mit Hinschauen und Handeln? Leben ist Warten. Auf irgendetwas warten wir immer – freiwillig oder unfreiwillig.
Jetzt warten wir auf Weihnachten, das Fest der Liebe. Wir werden nicht vergeblich warten. Wir werden beschenkt. Das Geschenk ist das ganze Jahr da. Wir müssen es nur öffnen.
„Meine Seele wartet auf meinen Herrn / mehr als Wächter auf den Morgen.“ (Psalm 130,6)
Körperübung (zweite im Video): Öffnen des Brustraums
Adventsgedicht
Warten auf das Fest der Liebe
heißt vorbereiten und einstimmen:
Plätzchen backen
Leckeren Glühwein trinken
O du Fröhliche hören
Dabei Geschenke einwickeln
Wo ist das Weihnachtspapier
Wann plane ich das Menü
Was ziehe ich an
Wen lade ich ein
aber was, wenn sie
schon da ist
die liebe
wenn sie durchs fenster späht
mir kopfschüttelnd zusieht
eine stunde wartet
ab und an winkt
weiter wartet
dann doch zur tür geht
zaghaft anklopft und
als ich hinhöre und öffne
verlegen lächelnd mit
rotem näschen vor mir steht
meine hand nimmt und
flüstert „komm!“
(c) Jutta Hajek
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