Warum ist Vergeben so schwer?
Verzeihen – unmöglich? Foto: Rainer Sturm / pixelio.de
Und was passiert, wenn es doch gelingt – mit der Seele, mit dem Körper? Verzeihen ist kein einmaliges Geschehen, sondern eine Haltung, mit der es sich freier leben lässt.
Mit Kränkungen umgehen
Im Schwimmbad krault einer hinter uns her – so ambitioniert, dass er uns unterpflügen würde, würden wir nicht ausweichen. Auf der Autobahn werden wir von rechts überholt oder geschnitten, Leute wechseln die Spur, ohne zu blinken. Unnötig und gefährlich! Noch schlimmer in der Arbeit: die Kollegin, die immer sofort zum Chef rennt, wenn sie meint, dass wir etwas nicht hundertprozentig erledigt haben, anstatt sich zuerst an uns zu wenden. Oder der Kollege, dem man nichts recht machen kann und der nur am Schimpfen ist.
Dann kommt man nach Hause, hat sich den ganzen Tag zusammengerissen und irgendeiner aus der Familie sagt ein falsches Wort. Man explodiert, weil der Druck, der sich aufgebaut hat, herauswill. Das kann in einen Streit münden oder schnell vergessen sein, wenn unser Gegenüber kapiert, was eigentlich los ist, und es gut sein lässt. Am authentischsten und gleichzeitig am dünnhäutigsten sind wir in der Familie.
Diejenigen, die wir lieben, können uns deshalb am leichtesten verletzen. Wir sind empfindlich, wenn wir von Menschen, die uns nahestehen, Kritik hören oder Ablehnung erfahren. Wie verletzend ist es, wenn ein Partner die Beziehung verlässt, um mit jemand anderem zusammen zu sein. Wie schwer fällt es, zerstörerische Erfahrungen aus der Kindheit hinter sich zu lassen. Kann man da überhaupt vergeben? Nicht zu vernachlässigen sind die Verletzungen, die wir uns selbst zufügen, indem wir uns nicht gut genug finden und uns verurteilen für das, was wir gesagt und getan oder versäumt haben. Manchmal sind wir selbst unser ärgster Feind.
Innere Ruhe finden
Jeder reagiert bei erlittenem Unrecht anders: Die einen zerdeppern Geschirr, die anderen ziehen sich zurück und fressen ihre Gefühle in sich hinein. Wenn wir wütend sind, steigt der Blutdruck, der Atem geht schneller, die Muskeln spannen sich. Der Körper ist in Aufruhr. Das ist auszuhalten, wenn es sich bald auflöst. Es kann aber sein, die Situation klärt sich nicht, bevor wir schlafen gehen. Dann diskutieren wir in Gedanken die halbe Nacht, erklären, warum wir recht haben, und verpassen den Schlaf, den wir gerade in so einer Situation brauchen. Wir haben auf unser Recht gepocht, aber verloren. Sind wir traurig statt wütend, geht die Verstimmung vielleicht so weit, dass wir zu nichts mehr Lust haben und vollkommen blockiert bleiben. Das wird umso belastender, je länger es anhält. Hat unser Gegenüber selbst Verletzungen erlitten, die der Grund für dieses Verhalten sind? Wäre Verzeihen und Versöhnen die beste Lösung, um wieder innere Ruhe zu finden?
Wo bleibt die Gerechtigkeit?
„Aber man kann doch nicht immer gleich verzeihen, nur damit alles wieder gut ist. Wenn man Recht hat, muss man das auch einfordern!“, lautet ein berechtigter Einwand. Es kommt nicht nur darauf an, was wir unternehmen, sondern auch wie. Viele Streitigkeiten unter Nachbarn ließen sich vermeiden, wenn ein vertrauensvolles Verhältnis schon aufgebaut wäre, bevor es Meinungsverschiedenheiten gibt. Dann kann man sich zusammensetzen und seine Position freundlich und fest darlegen, bevor man zum Anwalt geht.
Eine Übung, die unterschätzt wird, ist gut von anderen zu denken und ihnen zuzutrauen, sich richtig zu verhalten. Menschen wissen, was wir von ihnen halten und verhalten sich entsprechend. Nicht jedes erzwungene Recht sorgt auch dafür, dass es uns hinterher besser geht, weder finanziell noch körperlich oder seelisch. Bringt nicht innerer Frieden mehr als das Wissen, sein Recht bekommen zu haben? Dieser Meinung scheint die Familie gewesen zu sein, um die es im Folgenden geht.
Über sich hinauswachsen
2017 richtete der amerikanische Bundesstaat Arkansas den mehrfachen Mörder Kenneth Williams hin. In einem offenen Brief hatte Kayla Greenwood um Begnadigung für den Mörder ihres Vaters gebeten: „Es wäre unehrlich zu behaupten, dass dies hier einfach für uns sei. Das ist es nicht. Als er uns meinen Vater nahm, hat Mr. Williams uns unendlich viel Schmerz bereitet. Wir vermissen ihn immer noch und noch immer tut es weh. Doch das bedeutet nicht, dass unsere Bitte an Sie, Mr. Williams Leben zu retten, nicht das Richtige sei. Das ist sie …“ (The Guardian, 28.4.2017)
Der Gouverneur von Arkansas erhörte die Bitte um Gnade nicht, doch Williams durfte am Tag vor seiner Hinrichtung zum ersten Mal nach 17 Jahren seine Tochter Jasmine und zum allerersten Mal überhaupt seine 3-jährige Enkelin sehen. Familie Greenwood bezahlte die Flüge für beide und brachte sie zum Gefängnis.
Bewegend, wie Menschen über sich hinauswachsen und ihre Bitterkeit überwinden können. Diese Geste hat es Williams ermöglicht, sich von seinen Lieben zu verabschieden. Doch vor allem hat sie der Familie des Opfers Frieden gebracht, weil sie wusste: Wir haben nicht auf unser Recht gepocht, sondern das Richtige getan.
Vergeben – unmöglich? Foto: Martin Jäger / pixelio.de
Frei werden
Wir müssen uns nicht um Rache und Vergeltung für erlittene Verletzungen kümmern, denn die Liebe, die uns ins Leben gerufen hat, sorgt für Ausgleich. Wir können loslassen. Die Seele heilt. Wir werden frei, unsere Aufmerksamkeit dem zuzuwenden, was uns wichtig ist. Eine Anregung, wie wir reagieren können, finden wir in der Antwort Jesu auf Petrus Frage: »Herr, wie oft muss ich meinem Bruder vergeben, wenn er gegen mich sündigt? Bis zu siebenmal?« – »Ich sage dir nicht: Bis zu siebenmal, sondern bis zu siebzigmal siebenmal.« (Mt 18,21-22) Diese Haltung lässt sich nicht von heute auf morgen einpflanzen. Wie wäre es, einen Versuch zu starten?
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