Was sich entfalten könnte, wenn wir uns zurücknehmen würden
Die Raupe – ein Sinnbild für Geduld. Der Weg zum Schmetterling ist lang. Foto: Susannah V. Vergau
„Mit Geduld und Spucke fängt man eine Mucke“, heißt ein altes Sprichwort. Nicht gleich aufgeben, sondern dranbleiben führt zum Ziel. Heute soll alles schnell gehen und was nicht sofort taugt, muss weg. Wie wäre mein Leben, wenn ich mehr Geduld hätte?
Wenn ich keine Geduld mit mir habe, kann ich sie auch anderen nicht entgegenbringen. Ich hupe, wenn mir einer die Vorfahrt nimmt, ärgere mich, wenn eine Aufgabe länger dauert als erwartet oder mein Einsatz nicht sofort zum Erfolg führt, weil irgendwer dazwischenfunkt. Ich fühle mich gehetzt, mache mehrere Dinge gleichzeitig und trete auf der Stelle. Ich will alles und zwar sofort und erreiche durch diese Haltung manchmal überhaupt nichts.
Wie wäre das Leben, wenn ich Geduld hätte?
Hätte ich Geduld, wäre ich nachsichtiger und gütiger. Ich würde mir verzeihen, dass noch nicht alle Fenster geputzt sind. Ich würde ohne ein Wort hinnehmen, dass mein Partner kleine Macken hat, die mir nicht gefallen – in dem Bewusstsein, dass ich ihn sowieso nicht werde ändern können. Er muss mich ja auch ertragen, wie ich bin. Ich würde nicht glauben zu wissen, wie das Leben funktioniert und es meinen großen Kindern erklären zu müssen, sondern sie ihre eigenen Wege finden lassen. Hätte ich Geduld, würde ich Freundinnen und Freunden anstrengende Phasen und Zuspätkommen nachsehen, weil mir bewusst wäre, dass ich auch nicht perfekt und oft anstrengend bin. Wir würden einander genießen an hellen, und ertragen an dunklen Tagen.
Wie eine Raupe
Hätte ich Geduld, wüsste ich sicher, dass mein Leben sich entwickelt, auch im Verborgenen. Ich wäre wie eine Raupe, die sich verpuppt hat, ohne Garantie, dass das Leben irgendwann weitergeht, die aber ohne Angst vertraut, dass das Neue großartig wird. Ich würde mir ausmalen, meine Flügel aufzufalten und ins Licht zu fliegen, Sonne zu tanken und an Blüten Nektar zu trinken, ohne den geringsten Beweis, dass es so kommt. Ich würde fühlen, wie es ist zu fliegen.
Beharrlich würde ich warten, sorglos und still, bis der Kokon einen Riss zeigt, durch den Licht hereinfällt. Erst dann würde ich hinausdrängen, ausgereift, bereit mich zu zeigen.
Geduld ist Langmut
Hätte ich Langmut, hätte ich lange Mut, dass alles gut wird. Auch wenn Krankheiten auftauchen. Lebensbedrohliche oder einfach nur unangenehme, langwierige. Ich würde meinem Körper Zipperlein nachsehen, ihn pflegen. Und viel mehr beten, für Freunde und für mich. Und fester glauben, dass wir das Ersehnte schon erhalten haben. Ich verlöre den Mut nicht. Ich ließe mich nicht durch Äußerlichkeiten wie eine platte Autobatterie aus der Mitte bringen.
Meine Sicherheit wäre verankert in mir. Ich wäre gleichmütig, langmütig. Was könnte schon passieren, wenn ich in mir ruhte, wenn ich auf meine innere Stärke vertraute und darauf, dass meine tausend Fragen Antworten bringen, wenn es Zeit ist?
Langmut ist Liebe
Hätte ich Langmut, würde ich mehr lesen. In Büchern, die Antworten haben und von der Liebe wissen. An der Hochzeit unseres zweiten Kindes hörten wir eine Bibel-Stelle aus dem Brief des Apostels Paulus an die Gemeinde in Korinth, die nachklingt: „Die Liebe ist langmütig, die Liebe ist gütig. Sie ereifert sich nicht, sie prahlt nicht, sie bläht sich nicht auf. Sie handelt nicht ungehörig, sucht nicht ihren Vorteil, lässt sich nicht zum Zorn reizen, trägt das Böse nicht nach. Sie freut sich nicht über das Unrecht, sondern freut sich an der Wahrheit. Sie erträgt alles, glaubt alles, hofft alles, hält allem stand. Die Liebe hört niemals auf.“ (1.Korinther 13,4-8)
Wäre es nicht wunderbar, wenn die Geduld durch die Liebe in unser Leben käme und sich entfaltete?
Lesetipp: Vom Baum Vertrauen lernen
PS: Rainer Maria Rilke würde ich auch mehr lesen.
Über die Geduld
Man muss den Dingen
die eigene, stille
ungestörte Entwicklung lassen,
die tief von innen kommt
und durch nichts gedrängt
oder beschleunigt werden kann,
alles ist austragen – und
dann gebären…
Reifen wie der Baum,
der seine Säfte nicht drängt
und getrost in den Stürmen des Frühlings steht,
ohne Angst,
dass dahinter kein Sommer
kommen könnte.
Er kommt doch!
Aber er kommt nur zu den Geduldigen,
die da sind, als ob die Ewigkeit
vor ihnen läge,
so sorglos, still und weit…
Man muss Geduld haben
Mit dem Ungelösten im Herzen,
und versuchen, die Fragen selber lieb zu haben,
wie verschlossene Stuben,
und wie Bücher, die in einer sehr fremden Sprache
geschrieben sind.
Es handelt sich darum, alles zu leben.
Wenn man die Fragen lebt,
lebt man vielleicht allmählich,
ohne es zu merken,
eines fremden Tages
in die Antworten hinein.
Rainer Maria Rilke (1875 – 1926)