Blühender Kirschbaum

Vom Baum Vertrauen lernen

Blühender Kirschbaum
Kirschbaum in voller Blüte. Von ihm können wir Vertrauen lernen.

„Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser“, lautet ein bekanntes Sprichwort.  Ist das wirklich so? Es gibt Situationen, die ich nicht kontrollieren kann. Wie kann ich vertrauen, auch wenn ich verletzt worden bin? Eine Spurensuche in der Natur, die uns ermutigen kann, wieder zu vertrauen.

Erstarrung lösen

Der lange Winter. Der eisige Frost. Der Baum schläft. Alle Säfte zieht er nach innen. Die Äste streckt er in den Himmel, die Wurzeln tief in den Boden. Kahl steht er da. Eine Amsel setzt sich auf einen Zweig des Kirschbaums, zwitschert ihm von lauen Lüften und Licht und Wärme vor. Die Kirsche lauscht, öffnet alle Poren unter der rauen Rinde, saugt den Klang ein, fühlt Hoffnung erwachen. Außen bleibt sie unverändert, kalt und starr. Innen rührt sich ein Sehnen. Über ihre Wurzeln hört sie andere Pflanzen flüstern: „Bald ist es soweit!“ Am nächsten Morgen weht es weicher. Sie lässt sich vom Wind bewegen. Die Sonne schaut auf sie hinunter, freut sich an ihr und leuchtet sie an. Säfte steigen in der Kirsche hoch und sie spürt: Das Leben will wieder beginnen. Aufblühen wäre schön. Mit diesem Gedanken beginnen winzige rosa Knospen zu treiben. Noch geschlossen zieren sie Astspitzen wie zusammengefaltete Fächer. Ein Hoffnungshauch liegt über dem Baum.

Fühlen wir uns nicht auch oft wie erstarrt? Krieg macht Angst. Die Pandemie hat uns voneinander isoliert. Es ist für viele nicht leicht, den Anschluss wiederzufinden. Jede(r) kennt Zeiten des Rückzugs. Doch dann strecken andere ihre Arme nach uns aus und wollen sich mit uns verbinden. Signale des Aufbruchs kommen bei uns an: Ein Gespräch mit einer Freundin; ein Foto, das Sehnsucht weckt; eine Melodie im Radio, die innere Erstarrung löst und uns zum Träumen verleitet, das Lächeln eines Fremden. Wir geben nach und beginnen, uns wieder zu öffnen. Zaghaft zuerst, doch dann ist die Entwicklung nicht mehr aufzuhalten. Wir spüren Hoffnung, dass sich eine verzwickte Situation löst, auch wenn wir momentan nicht wissen wie. Auch wenn wir keine Vorstellung haben, was kommt. Ein Schritt, um wieder Vertrauen zu lernen, kann sein, spontan ein Gespräch mit einer unbekannten, sympathischen Person anzufangen.

Enttäuschte Hoffnung

Die Nacht. Kälte kriecht an den Baum. Die Knospen zittern. Raureif legt sich auf sie. Werden sie es schaffen, sich zu öffnen, trotz dieses Rückschlags? Die Kirsche erschrickt: Habe ich mich zu früh geöffnet? Wird die Kälte die Knospen zerstören?

Es fühlt sich beängstigend an, so verletzlich zu sein, seine Knospen zu öffnen. Was geschieht, wenn ein neuer Kälteeinbruch kommt? Kaum gedacht, schon passiert. Ein Ereignis wirft uns zurück in die vorherige Bahn, aus der wir doch herauswollten. Misstrauen kommt hoch. Doch wir sind mehr als unsere Gefühle und beobachten es erst einmal, ohne es zu bewerten.
„Vertrauen ist gut, Kontrolle besser“, heißt ein bekanntes Sprichwort. „Siehst du, ich wusste es gleich, dass es nicht gut geht, einfach aufzumachen“, denken wir bei uns und lassen die gerade erst ausgetriebenen Knospen hängen. Ein Freund, eine Freundin hat uns verletzt. Wären wir nicht so offen gewesen, wäre das nicht geschehen. „Wie naiv von mir zu vertrauen, ohne mich abzusichern!“, mit diesem Gedanken schließen wir das Thema ab. Es ist ein mutiger Schritt zu zeigen, dass man verletzt ist. Der/die andere ist sich dessen vielleicht nicht einmal bewusst. So bekommt er/sie die Chance, seine/ihre Sichtweise zu teilen.

Begegnung ohne Schutzschild

Der Morgen beginnt voller Zweifel und düsterer Gedanken. Schlapp hängen die zarten rosa Gebilde an müden Zweigen. Zwei Tage später zieht beständige Wärme heran. Die Knospen öffnen sich, bringen jeden, der vorbeikommt, zum Staunen: „Ahhh, wie ein Wunder jedes Jahr!“. Die Kirsche jubelt, wiegt sich in der Frühlingsluft, die Blütenblätter ins Gras weht. Bienen suchen Nektar und bestäuben die Kirschblüten. Ein Geben und Nehmen, ohne Verletzung.

Die Umgebung verändert sich. Durch den Vertrauensvorschuss, den wir gegeben haben, indem wir uns öffneten, ohne wirklich zu wissen, was geschehen würde, wird das Wetter wärmer. Irgendjemand muss anfangen mit dem Sich-öffnen ohne Absicherung. Ich vertraue mir und meinem Gespür, wo ich das kann. In mir und in jedem Menschen wohnt ein Funke Gottes. Auf dieser Ebene gehören alle Menschen und die ganze Schöpfung zusammen. Manchmal sehe ich diesen Funken in den Augen eines anderen aufblitzen.
Nur in offene Blüten können Bienen kommen. In der Begegnung ohne Schutzschild entstehen Impulse für die Entfaltung des Lebens. Es macht froh, sich auszutauschen. Die Angst nimmt ab. Innen reift die Gewissheit: Ich darf vertrauen. Nicht naiv, aber mutig. Wenn ich verletzt werde, kann ich verzeihen. Kommt mir das zu schwer vor, übergebe ich die Situation – wie ein Paket – an die Liebe, und gehe weiter. Ich bleibe offen für das, was sich entwickeln will.

Früchte tragen

Tropfen prasseln in Kaskaden auf den Baum. Blass hängen die Blüten am Ast. Der Regen peitscht sie zu Boden. Doch der Regen ist Nahrung: rotgrüne Blätter treiben aus den Zweigen. Der Sommer kommt. Mit ihrem Blätterdach schützt die Kirsche die Menschen, die bei ihr wohnen. Ihre Früchte ernähren Mensch und Tier.

Unerwartete, heftige Situationen – Streit, Krankheit, der Verlust eines lieben Menschen, des Arbeitsplatzes, ein Umzug o.ä. können uns aus der Bahn werfen. Alles fühlt sich falsch an. Es zeigt sich durch einen Knoten im Magen oder Dröhnen im Kopf und man möchte am liebsten wegrennen. Was macht der Baum? Er kann nicht weg. Er lässt es geschehen. Und er wird zum Segen. Wir können das auch: Darauf vertrauen, dass Gutes entsteht, wenn wir bei uns bleiben und bei dem, was wir als unsere Aufgabe erkannt haben. Im Geben empfangen wir Freude. Wir haben Licht und Nahrung bekommen und teilen die Früchte, die gewachsen sind. Das fühlt sich gut an. Der Knoten löst sich. Was kann ich heute aus freiem Herzen geben, ohne selbst in einen Mangel zu geraten? Wie kann mir das helfen, wieder Vertrauen zu lernen?

Im Vertrauen loslassen

Im Herbst lässt die Kirsche los. Die Blätter fallen und werden zu Erde. Allmählicher Rückzug. Die Starre des Winters trifft die Kirsche nicht unvorbereitet. Ob sie weiß, was kommt? Ob sie einfach mitgeht und vertraut? Ich kann es nicht sicher sagen. Mir scheint, sie vertraut. Sie glaubt an Morgen. Das will ich auch.

Loslassen ist das Schwerste. Wie kann der Baum das jedes Jahr? Diese schönen Blätter einfach fallenlassen, ohne zu wissen, ob jemals neue austreiben werden. Vielleicht liegt es in der Natur von uns Menschen, festhalten zu wollen: eine enge Freundschaft, eine gewohnte Umgebung, einen großen Erfolg. Doch nichts kann bleiben, wie es ist. Alles fließt im Kreislauf von Werden und Vergehen. Ich bleibe nicht für immer jung. Im Spiegel entdecke ich Falten. Ich bin nicht mehr so stark wie früher. Na und? Ich bin da und kann etwas mitgestalten. Und das will und werde ich im Vertrauen darauf, dass morgen wieder Blüten austreiben und neue Früchte wachsen und reifen. So wie die Sonne den Baum immer mit Licht versorgt, auch wenn Wolken sie verdecken, werde auch ich Tag und Nacht umstrahlt von grenzenloser Liebe.

Das Buch „Siehst du die Grenzen nicht, können sie dich nicht aufhalten“, erzählt von Menschen, die vertrauen können und müssen. Kommentare von LeserInnen

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