Der rote Faden für dein Leben

Was macht dich aus – Liebe als roter Faden (c) Jutta Hajek
Diese Frage wird normalerweise nicht gestellt, denn sie ist viel zu direkt und würde als unhöflich betrachtet. Doch es lohnt sich, ihr nachzugehen. Tun wir es, verstehen wir uns selbst besser und folgen unserem inneren roten Faden mitten hinein ins Leben.
Braucht es einen roten Faden?
Eine Freundin schreibt: „Ich denke, dass der berühmt-berüchtigte Rote Faden überbewertet wird. Ich bin ein Mensch mit unzähligen verschiedenen Seiten und es gibt mindestens genauso viele aufregende Wendungen, die mein Leben noch nehmen kann. Dafür bin ich bereit – ich will mich nicht durch einen roten Faden einschränken lassen. Stattdessen habe ich im Laufe der Zeit einen stabilen inneren Kern entwickelt, der dafür sorgt, dass ich auch in stürmischen Zeiten nicht untergehe und auch unerwartete Veränderungen in meinem Leben willkommen heißen kann, ohne zu kentern.“
Okay, dann ein stabiler innerer Kern. Doch wie kann man den entwickeln?
Amélie
Sie habe endlich den wunderbaren Film Die fabelhafte Welt der Amélie angesehen, schrieb die Andere-Zeiten-Redakteurin Linda Giering, von der ich immer gern lese, im August-Newsletter. Dabei sei ihr aufgefallen, dass die Vorlieben und Abneigungen der wichtigen Figuren gleich zu Beginn des Films detailliert beschrieben würden. Amélies Mutter mag es zum Beispiel nicht, wenn ihre Finger beim Baden schrumpelig werden, wenn jemand, den sie nicht mag, sie an der Hand berührt, oder wenn sie beim Aufwachen den Abdruck des Kopfkissens auf der Wange hat. Sie mag aber die Kostüme von Eiskunstläufern und das Parkett mit ihren Pantoffeln zu polieren.
Was magst du und was nicht?
Hast du das schon einmal so detailliert und konkret überlegt, was du magst? Vieles spielt sich unter der Oberfläche ab und der Alltag lässt wenig Zeit, in die eigene Welt einzutauchen. Ich bin neugierig geworden und ein paar Ideen hatte ich nach einer Weile dann doch: Ich mag es, Enkelkinder zu knuddeln, mit meiner Schwester über Dinge zu reden, die ich mit keinem anderen teile, und den Geruch von Pferdedung bei den nahen Ställen. Aber ich mag es nicht, wenn ich beim Essen aufstehen muss, wenn ein Splitter in meinem Finger steckt oder wenn jemand sehr laut spricht. Hast du Lust bekommen, auch einmal aufzuschreiben: Was macht mich aus? Was mag ich, was nicht? Das ist ein guter Start auf dem Weg zu sich selbst.
Erste Priorität
Jeder Mensch ist ein eigenes Universum. Wenn dieses in sich stabil schwingt, kann wenig es erschüttern. Von außen kommt einiges auf uns zu: Bedrohungen, Kriege und Krisen drängen spätestens mit den Nachrichten am Abend ins Bewusstsein. Auf der Arbeit kämpfen viele mit Überforderung. Familienmitglieder oder liebe Freunde werden krank, manche gehen ganz. Es ist schwer, dabei die eigene Mitte zu spüren und gesund zu bleiben.
Wir könnten das, was uns ausmacht, den stabilen inneren Kern, zur ersten Priorität machen. Der Weg dahin ist für jede und jeden ein anderer. Für mich führt er zum Beispiel durch Beten, Yoga üben, Meditieren und ins Grüne gehen. Morgens gleich schreibe ich einige Seiten, ohne zu filtern. Dabei finde ich im Lauf der Zeit Themen, die wiederkehren, Sichtweisen, Halt. Diese Aktivitäten geben mir einen Schlüssel zum inneren Raum.
Liebe als roter Faden
Möglicherweise kann ein innerer roter Faden doch nützlich sein, solange er nicht eng gefasst ist. Mascha Kaléko hatte einen, da bin ich mir sicher. Die 1907 in Galizien (im Westen der heutigen Ukraine) geborene Dichterin floh mit ihrer Familie vor dem Ersten Weltkrieg zunächst nach Frankfurt. Von dort aus zog sie nach Marburg, dann nach Berlin, wo sie ihre Jugendzeit verbrachte, zu schreiben begann, heiratete und einen Sohn bekam. Die Nationalsozialisten verboten ihre Bücher. 1938 emigrierte sie in die Vereinigten Staaten. Der äußere rote Faden in ihrem Leben waren Flucht und Neubeginn.
Trotzdem hat ihre innere Haltung sie intensive Freude erleben lassen. Die beschreibt sie im Gedicht „Sozusagen grundlos vergnügt“: „… Ich freue mich, dass ich mich an das Schöne / Und an das Wunder niemals ganz gewöhne. / Dass alles so erstaunlich bleibt, und neu! / Ich freue mich, dass ich … Dass ich mich freu.“ Die Sängerin Dota Kehr hat es vertont. Und sie singt von der Liebe, die für Mascha Kaléko zur Heimat wurde: Die frühen Jahre geht mitten ins Herz. Wäre es nicht wunderbar, so wie Mascha Kaléko, Wunder zu erwarten, das Staunen nie zu verlernen und in der Liebe Heimat zu finden?
Ein beliebter Impuls: Ein starker Antrieb: die Freude