Sich auf der Schwelle des Augenblicks niederlassen

Wie mehr Präsenz das Leben verändert

Jutta Hajek im Wald

Im gegenwärtigen Moment sein – jetzt in dieser Sekunde – nicht schon gedanklich ein paar Schritte weiter; genau an dem Ort, an dem ich in diesem Augenblick körperlich bin; bei dem Menschen, dem ich gerade gegenübersitze; bei der Sache, an der ich gerade arbeite. Wollen wir das nicht alle? Warum ist das so schwer? Was würde sich ändern, wenn wir präsenter wären?

Was fällt mir ein, wenn ich an Präsenz denke? Anwesenheit, Geistesgegenwart, Wachheit. Auch Klarheit und Authentizität. Gelassenheit gehört wohl auch dazu. Das ruhige, feste Bewusstsein, wer ich bin, wozu ich hier bin und eine innere Kraft, die ausstrahlt in die Welt und sie ein Stück heiler macht.
Wären wir täglich zu 100 Prozent präsent, würden wir unsere Vorhaben stets erledigen, Chef oder Chefin wären zufrieden, die Wohnung wäre aufgeräumt, Freunde wären begeistert, weil wir konzentriert zuhören. Alles paletti! Aber hundertprozentige Präsenz zu erreichen, ist unmöglich. Es prasselt viel zu viel auf uns ein, was es uns schwierig macht, präsent zu bleiben. Trotzdem ist geistige Wachheit eine der wichtigsten Voraussetzungen, wenn wir unsere Träume umsetzen und Ziele erreichen wollen. Dann werden wir nicht von äußerlichen Ereignissen hin- und hergeworfen wie eine Barke im Sturm, sondern halten Kurs. Wäre das nicht klasse?

Was steht der Präsenz entgegen?

Doch es gibt Tausend Ablenkungen, die uns locken, von einer Sache zur anderen zu springen und nichts zu Ende zu bringen: Am PC poppt ständig Werbung auf, die ich lesen soll – „pling“ – und schon bin ich raus aus dem, was ich gerade schreibe. Im Supermarkt vergesse ich über der Werbung für fangfrischen Lachs, dass ich Äpfel kaufen wollte; beim Gespräch mit der Freundin erreicht mich ein Streit am Nebentisch und die Konzentration ist dahin. Das Handy will uns dazu verführen, ständig zu kommunizieren. Wie der Versuch ausging, mein Handy einen Tag lang links liegen zu lassen, erzähle ich hier.

Oft, wenn ich einen wichtigen Text schreiben will, verspüre ich den Impuls, erstmal Staub zu saugen oder das Haus aufzuräumen. Gefährlich! Wenn ich all das, was ich aus einem inneren Impuls heraus vorher machen will, wirklich zuerst mache, komme ich nicht mehr zu dem, was ich eigentlich wollte, weil der Magen knurrt und Mittagessenszeit ist.

Was passiert, wenn wir uns treiben lassen?

Na gut, könnte man sagen: Dann mache ich es eben morgen. Manchmal ist es tatsächlich sinnvoll, Aufgaben zu verschieben. Zum Beispiel, wenn ich noch nicht weiß, wie ich etwas anpacken soll und noch kein eindeutiges Bauchgefühl habe, ob ich das überhaupt will. Zum Beispiel, wenn ich als Freiberuflerin eine Anfrage bekomme für ein Projekt, mir aber nicht sicher bin, ob das Thema zu mir passt, recherchiere ich erst einmal und befrage meine Intuition. Über diese Kraft schreibe ich ausführlich hier. Manche Aufgaben können wir uns nicht aussuchen, sondern müssen sie erledigen. Dann reicht manchmal schon der Wille, es schnell und schmerzlos hinter sich zu bringen, um sich danach etwas anderem zuwenden zu können.

Oft halten uns aber Ablenkungen davon ab, zu denken, was uns guttut und zu tun, was uns weiterbringt. Wenn mir Präsenz im Leben fehlt, schaffe ich es nicht, der Mensch zu werden, der ich werden will. Es gelingt mir auch nicht, für andere da zu sein, weil ich mein eigenes Leben nicht im Griff habe. Und das nur, weil ich dem nachgebe, was auf mich zukommt, anstatt dass ich aktiv entscheide, was ich in mein Leben lasse und was nicht, wie ich meine Zeit verbringen will und wie nicht. Doch mangelnde Präsenz hat noch viel gravierendere Folgen.

Was mich beunruhigt

Wenn ich meine Gedanken nicht bewusst lenke, sondern zulasse, dass sie immer in die Zukunft oder in die Vergangenheit wandern und an zehn Orten gleichzeitig sind, löst das Stressreaktionen im Körper aus und macht mich krank. Bei noch so vielen Aufgaben im beruflichen und privaten Leben bin ich ja doch in der Realität immer nur in diesem einen Moment, bei dieser einen Aufgabe. Wenn ich die konzentriert löse, fühle ich mich nicht gestresst, sondern komme kraftvoll vorwärts.

Mich beunruhigt der Mangel an Präsenz mancher junger Eltern gegenüber ihren Kindern. Immer öfter beobachte ich auf dem Spielplatz um die Ecke Mütter, die ihr Kleinkind im Sand sitzen lassen und sich – statt mit ihm zu spielen – lieber mit ihrem Handy beschäftigen. Die Kinder wirken verloren und bekommen wenig Aufmerksamkeit. Wie werden sie sich entwickeln? Neulich war ich schockiert, als ich abends in der Drogerie einkaufte und beobachtete, wie ein kleines Mädchen mit roten Augen mit einem Handy in dem laut ein lustiges Video lief, hinter seiner Mama hertappte. Die suchte zusammen, was sie brauchte, lief hin und her, und überließ ihre Tochter sich selbst und der „Handy-Nanny“. Der Anblick dieses armen Kindes traf mich mitten ins Herz. „Was wir Kindern schenken, schenken wir uns allen“, sagt Pater Tobias im Buch „Der Marathon-Pater“. Wenn wir präsent sind, können wir Negatives abwenden, weil wir rechtzeitig merken, dass da etwas schiefläuft.

Wie kann ich präsenter werden

Eine effektive Strategie besteht darin, den frühen Morgen zu nutzen, in eine gute Spur zu kommen: Handy und PC noch ausgeschaltet lassen, Yoga üben, meditieren oder eine Runde an der frischen Luft in der Natur laufen. Mir hilft, einen Plan zu schreiben, was ich an diesem neuen Tag erledigen will. Am Beginn einer Woche erstelle ich einen Wochenplan. Klar kann man vom Plan abweichen, aber er ist ein Wegweiser, der die Richtung zeigt. Benachrichtigungstöne von PC und Handy auszuschalten, hilft Ablenkungen zu reduzieren. Wenn ich konzentriert an etwas arbeiten will, schicke ich mein Handy in den Flugmodus. Einkaufen gehe ich meist mit Liste. Private Telefonate verschiebe ich auf den Nachmittag.

Dem Alltag eine Struktur zu geben, ist sinnvoll. Feste Zeiten für Essen und Entspannung sind mir wichtig. Der Tag besteht dann nicht ausschließlich aus Arbeit, sondern wir schaffen aktiv Freiräume für das, was wir lieben: Musizieren, Singen, Tanzen, Malen, Radfahren und andere Freizeitaktivitäten, lassen uns im Moment versinken und alles andere vergessen. Wir sind im Hier und Jetzt, ganz bei uns. Was für ein Glück, wenn es solche Zeiten gibt!

Auch durch meine Haltung kann ich präsenter werden. Unser Körper spricht und übermittelt Signale, nicht nur an unsere Umwelt, sondern auch an uns selbst. Darüber schreibt die Fernsehjournalistin Doro Plutte in ihrem Buch „Wie Haltung unser Leben verändert, das im bene! Verlag erschienen ist. Von Kopf bis Fuß zu mehr Sicherheit, Präsenz und Herzlichkeit“, das ich sehr gern gelesen habe und empfehlen kann. Ein sicherer Stand, gute Atemtechniken für eine feste Stimme und eine aufrechte, entspannte Körperhaltung verändern nicht nur, wie andere auf uns reagieren, sondern auch, wie wir uns fühlen: präsent im eigenen Körper.

Präsenz wofür?

Präsenz kann sich als Wachsamkeit zeigen gegen Manipulation durch andere – einzelne oder Organisationen. In der Politik sind oft die Kräfte am lautesten, die versuchen, mit einfachen Parolen Menschen zu ködern. Indem ich nachfrage, was genau gemeint ist, abwäge, was ich gehört und gelesen habe und es mit meinen Erfahrungen abgleiche, kann ich mein eigenes Bild dagegensetzen und werde nicht zum Spielball fremder Interessen.

Präsent sein für mich selbst und meine Bedürfnisse; für eine Freundin, die mir dringend etwas erzählen will; für meine Kinder, die von neuen Vorhaben berichten; für KollegInnen, mit denen ich an einem Projekt arbeite oder für die Bedürfnisse von Menschen, die hierher geflüchtet sind, ist lohnend. Hinschauen, reflektieren und sich einsetzen für einen schonenden Umgang mit den Ressourcen dieser Welt, ist dran – jetzt, nicht später.

Einem anderen zuhören, ohne direkt eigene Erfahrungen beizusteuern, musste ich erst lernen. Gespräche, in denen sich zwei Menschen gleichberechtigt austauschen, sind wertvoll. Da tritt die Welt in den Hintergrund. Es ist ein Segen, wenn so etwas gelingt.

„Wer sich nicht auf der Schwelle des Augenblicks, alle Vergangenheit vergessend, niederlassen kann, wer nicht auf einem Punkte wie eine Siegesgöttin ohne Schwindel und Furcht zu stehen vermag, der wird nie wissen, was Glück ist, und noch schlimmer: er wird nie etwas tun, was andere glücklich macht“, so der deutsche Philosoph Friedrich Nietzsche. Tun wir es, lassen wir uns wieder öfter auf einem Punkt nieder und vergessen wir alles um uns herum! Glückliche Momente werden folgen, ganz gewiss.

Foto: Daniel Elke

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