Der Versuch, das Mobiltelefon einen Tag lang links liegen zu lassen, und was daraus wurde.
Tagesbeginn ohne soziale Medien
Die türkise Hülle spricht mich an: Nimm mich! Noch ist mein Handy im Flugmodus. Meine Hand möchte es ergreifen. Sie nähert sich unwillkürlich. Doch im selben Moment zucke ich zurück. Ein verwegener Gedanke blitzt in mir auf: Wie wäre es, das Handy heute nicht anzufassen? Überhaupt nicht. Echt jetzt?
Würde ich etwas Wichtiges verpassen? Einen Anruf von einem Auftraggeber? Oder von den Kindern? Eine WhatsApp-Nachricht aus einer meiner Gruppen? Ein Foto einer Kollegin auf Instagram? Ich gehe ins Bad, laufe wieder dran vorbei auf dem Weg in die Küche, drehe den Kopf weg, bin entschlossen. Wir frühstücken gemütlich – mein Mann hat frei. Ich esse ein Ei, nippe am Tee, wir reden.
Dann hole ich die Geschenke für die Kinder, die bald Geburtstag haben, aus ihrem Versteck, lege sie auf den Tisch, trage Geschenkpapier, Tesafilm, Schere und Bänder herbei und packe alles ein. Herrlich, mal nicht erreichbar zu sein! Ich renne auch nicht zwischendurch weg, um zu gucken, wer mir geschrieben hat, sondern singe „Free me“ von Uriah Heep vor mich hin.
Schauen statt fotografieren
Wir spazieren am Nachmittag über Feldwege, freuen uns über umgepflügte Furchen fetter dunkler Ackererde, die in der Sonne glänzen. Sonne. Endlich ist sie zu sehen. So lange haben wir uns nach ihr gesehnt. Nur Nebel, Wolken, Regen wochenlang. Trostlos. Aber jetzt: Die Sonne im Gesicht, warm, hell, betörend. Wir blicken in die leuchtenden Gesichter anderer Spaziergänger. Grüßen einander, spüren die Freude über helle Stunden. Am Wegrand ein Misthaufen. Dampfender Pferdemist fasziniert mich. Ich greife in die Tasche, um ein Foto zu machen – ach, es liegt ja daheim und schläft. Unberührt schon einen halben Tag. Wie lange werde ich noch durchhalten?
Laut einer Online-Befragung der Ruhr-Universität Bochum im Frühjahr 2021 ist der Handy-Gebrauch in der Pandemie stark angestiegen. Die 516 Befragten nutzten ihr Handy im Schnitt 3,14 Stunden täglich. Viele Menschen versuchten, den Kontrollverlust durch die Pandemie mit verstärkter Kontrolle der Online-Welt auszugleichen, erklärt Mitautorin und Psychologin Julia Brailovskaia.
Zur Studie
Ich denke schon, dass auch mein Handykonsum durch Corona gestiegen ist. Ich treffe mich seltener mit Freundinnen als vor der Pandemie. Wir schreiben uns aber regelmäßig. Um zeitig zu antworten, unterbreche ich mich manchmal bei anderen Aktivitäten. Andererseits: Hätten wir in den vergangenen zwei Jahren unsere Handys und die digitalen Medien nicht gehabt, was wäre wohl mit Freundschaften und beruflichen Beziehungen geschehen? So konnten wir doch in Kontakt bleiben.
Freiräume schaffen
Ob jemand sauer ist, wenn ich nicht gleich antworte – wie sonst? Morgen ist auch noch ein Tag. Ich ziehe das jetzt durch. Ich komme am Handy vorbei. Es sieht traurig aus. Nimm mich endlich, flüstert es mir zu. Du kannst mich doch nicht unbeachtet hier liegenlassen. Ich weiß genau, das hältst du nicht durch! Mein Arm bewegt sich wie ferngesteuert. Die Hand ist nur noch wenige Zentimeter vom Telefon entfernt. Nur mal schnell gucken … Oder doch nicht … ? Nein! Ich trete einen Schritt zurück, drehe mich um und laufe ins Büro. Am PC checke ich meine E-Mails. Und dann habe ich eine Idee: Wie wäre es, Aktivitäten in den sozialen Medien zu bündeln und sich so Freiräume zu schaffen, in denen man konzentriert arbeiten kann? Theoretisch wissen wir alle, dass das sinnvoll ist, aber praktisch fällt es mir nicht so leicht. Konzentrierter als sonst arbeite ich an diesem handyfreien Tag, erledige alles, was ich mir vorgenommen hatte, und schalte den Computer aus.
Am Abend, als ich ins Bett gehe, komme ich nochmal am Handy vorbei. Ich versuche auszurechnen, wie viele Stunden es schon unbenutzt da liegt. Fast tut es mir leid. Morgen kommst du wieder zum Einsatz, verspreche ich. Dann spüre ich, wie ruhig ich bin, wie klar und geordnet die Gedanken. Stolz und erleichtert, dass ich tatsächlich geschafft habe, mein Mobiltelefon einen Tag lang nicht anzufassen, lege ich mich schlafen.
Am nächsten Morgen schalte ich es ein, brummend trudelt eine Nachricht nach der anderen herein. Ich beantworte alle, freue mich, dass ich nichts Entscheidendes verpasst habe und nehme mir vor, das wieder zu machen. Vielleicht sogar ein handyfreier Tag pro Woche? Also, wenn ich nicht sofort antworte, wundert euch nicht. Ich bin dann mal weg.
Ich komme wieder – versprochen.