So ein Leuchten
Die Natur erblüht im Frühling und lädt uns ein, uns zu öffnen. Wenn die Sonne wieder stärker wird, können wir nicht anders, als trübe Gedanken abschütteln und das Leben in all seinen bunten Facetten hereinlassen. Die Kirsche zeigt uns bald schon ihr schönstes Kleid. Wer genau hinschaut, kann sich von ihr motivieren lassen.
„Wie schön du aussiehst!“, flüsterte sie. Sie drückte den Hebel hinunter, zog die Schiebetüre auf, trat auf die Terrasse und schaute hinauf zum Baum, dessen Zweige von rosaroten Blüten bedeckt waren. „Auf einmal löste sich eine und landete auf ihrer Nase. Sie erschrak, dann musste sie lachen. Wollte ihr grüner Freund antworten?
Seit der vorherigen Woche hatte sie täglich nachgeschaut, ob die Knospen sich öffneten und die ersten mit Jubel begrüßt. Innerhalb weniger Tage, manchmal Stunden, wenn die Sonne sich auf den Garten legte, öffneten sich alle Blütenkelche und der Baum streckte, eingehüllt in sein Festgewand, die Arme dem blauen Himmel entgegen. Die fünfstämmige japanische Zierkirsche überspannte die Terrasse und leuchtete vor Daseinsfreude, legte jedes Quäntchen Kraft in die Blüten, die ihr nichts nutzten, da sie keine Früchte ansetzen konnte. Bald würde der Zauber vorbei sein, die Blütenpracht heruntergewaschen vom Regen, der angekündigt war. Die grünen Blätter, die der Baum nach dem frostreichen Winter zum Überleben brauchte, spitzten hervor, winzig, verglichen mit den pinkfarbenen Blütenknäueln, vor denen auch das dürrste Ästchen nur so strotzte.
Wie sehr sie sich wünschte, auch einmal etwas nutzlos Erscheinendes zu tun, nicht abzuwägen und sich vielleicht dann doch dagegen zu entscheiden, sondern einfach drauflos zu blühen, so ein Leuchten in ihr Leben zu bringen, Neues zu anzufangen, das sich richtig anfühlt, ohne zu fragen: Wohin führt mich das? Sie sog den Duft ein, der sie umschwebte, summte eine Melodie, die am Morgen im Radio gelaufen war. Eine Leichtigkeit ergriff sie, die sie lange nicht verspürt hatte.
Sie hob die Kirschblüte auf, steckte sie sich ins Haar, ging ins Haus und nahm den roten Pulli aus dem Schrank, den sie seit Jahren nicht getragen hatte.
***
Vorfrühling von Reiner Maria Rilke
Härte schwand. Auf einmal legt sich Schonung
an der Wiesen aufgedecktes Grau.
Kleine Wasser ändern die Betonung.
Zärtlichkeiten, ungenau,
greifen nach der Erde aus dem Raum.
Wege gehen weit ins Land und zeigen’s.
Unvermutet siehst du seines Steigens
Ausdruck in dem leeren Baum.
Mehr Gedichte von RilkeWer einen regelmäßigen positiven Impuls von Jutta Hajek per E-Mail erhalten möchte, kann sich hier anmelden.